AIDS meldet sich zurück
Die Zahl der neuen HIV-Infektionen ist in Tschechien so stark gestiegen wie nie.
Am einfachsten wäre es, jetzt loszulachen. Über dieses glitschige, blaue Kondom in ihrer Hand. Und erst recht über dieses Ding auf ihrem Schoss: Rosig, glatt und härter, als es in der Realität je sein könnte. Vielen wäre das jetzt peinlich. Kristyna bleibt gelassen. Ohne zu zögern stellt die 16jährige den Plastikpenis aufrecht hin. Mit der linken Hand drückt sie Spitze des Kondoms zusammen, mit der rechten rollt sie das Preservativ vorsichtig nach unten ab. „Genau, so ist es richtig“, sagt Jiří Stupka. Die anderen nicken. Und nicht ein einziger lacht.
Die richtige Benutzung eines Kondoms ist nur eine von vielen Dingen, die in der Mittelschule für Gesundheitswesen in Prag vier an diesem Januarmorgen auf dem Programm steht. Beim „Spiel gegen AIDS“ müssen die etwa 50 Schüler an insgesamt fünf Stationen zeigen, was sie wirklich über all die Dinge wissen, für die man sich als Jugendlicher plötzlich so intensiv interessiert: Wie war das nochmal mit den fruchtbaren Tagen einer Frau? Schützt die Pille auch gegen eine Ansteckung mit HIV? Werde ich krank, wenn ich einen HIV-positiven Menschen umarme? Und was soll man eigentlich antworten, wenn der Freund oder die Freundin sagt, dass der Sex mit Kondom einfach nicht so gut ist wie ohne? Gemessen an dem Spass, den die zukünftigen Schwestern und Ärzte an diesem Vormittag beim „Spiel gegen AIDS“ haben, kann Jiří Stupka mit seiner Arbeit hochzufrieden sein. Und trotzdem haben die AIDS-Präventisten derzeit relativ wenig Anlass zur Freude. Denn Mitte Januar ist die neueste AIDS-Statistik veröffentlicht worden – und die verheisst für Tschechien nichts Gutes.
Mit 122 Fällen lag die Zahl der HIV-Neuinfektionen in Tschechien 2007 um fast 30 Prozent höher als 2006. Verglichen mit 2003 handelt es sich gar um eine Verdoppelung der Neuinfektionen. Auch 2007 erfolgte jede zweite Ansteckung durch Sex zwischen Männern Doch der starke Gesamtanstieg könnte darauf hindeuten, dass Tschechien in den nächsten Jahren jene Entwicklung nachvollzieht, wie sie in Westeuropa seit einiger Zeit zu beobachten ist: Viele westeuropäische Länder haben seit der Jahrtausendwende nicht nur einen sprunghaften Anstieg der HIV-Neuinfektionen zu verzeichnen. Besonders stark steigt zugleich der Anteil derjenigen, die sich nicht über homo- sondern über heterosexuelle Kontakte infiziert haben. Die Zeiten, in denen HIV und AIDS ein Problem von Schwulen, Junkies oder Prostituierten waren, könnten deshalb auch in Tschechien bald vorbei sein. Die Frage ist deshalb: Was muss passieren, damit sich die Immunschwäche in Tschechien nicht weiter ausbreitet? Und was ist eigentlich der Grund dafür, dass sich auch in Tschechien deutlich mehr Menschen mit dem Virus infizieren als in den letzten Jahren?
Strapse und Spiele
„Ob AIDS ein Thema ist? Ja, klar. Meine Mutter liegt mir jedes Wochenende in den Ohren, dass ich nicht gleich mit jedem ins Bett gehen soll.“ Wenn Natalie und Veronika sich nach dem Wochenende zuhause in ihrer Internatsschule in einer mährischen Kleinstadt wiedertreffen, gibt es immer jede Menge zu erzählen: Von den Eltern, von der Disko – und vom Sex. Allzu lange ist es noch nicht her, seit die beiden 15jährigen zum ersten Mal mit einem Jungen geschlafen haben. Doch wenn die beiden berichten, was sie mit ihrem Liebsten in letzter Zeit alles erlebt und entdeckt haben, klingt es ganz so, als unterhielten sich hier zwei erfahrene Frauen. Um Strapse geht es da oder um Rollenspiele. „Aber über AIDS reden wir untereinander eigentlich nicht“, sagt Natalie. Beide Mächden meinen, in der Schule gut über die Krankheit und die Ansteckungsgefahr informiert worden zu sein. Trotzdem hat Natalie „irgendwie das Gefühl, dass mich persönlich das alles gar nicht wirklich betrifft.“
AIDS haben nur die anderen – für Petr Weiss, Sexualwissenschaftler an der Prager Karls-Uni ist diese irrige Annahme einer der wichtigsten Gründe, warum sich auch in Tschechien immer mehr Menschen mit HIV infizieren. „Für die meisten Menschen stellt AIDS nach wie vor nur eine theoretische Bedrohung dar“, sagt er. „Und durch die besseren Therapiemöglichkeiten betrachten viele diese Krankheit inzwischen nicht mehr als tödlich, eher wie eine Diabetes, mit der man leben kann. AIDS hat einfach viel von seiner Dämonenhaftigkeit verloren.“
Dieser Trend zur Verharmlosung der Gefahr ist keineswegs ein tschechisches Spezifikum. Auch in Deutschland hielten 2006 nur noch ein Drittel der Bevölkerung AIDS für eine der gefährlichsten Krankheiten (gleichzeitig meinten 64 Prozent, Krebs sei besonders bedrohlich). Doch während die Zahl derjenigen, die Sex mit vielen verschiedenen Partnern haben und dabei regelmässig Kondome benutzen, in den letzten Jahren in Deutschland deutlich angestiegen ist, lässt sich für Tschechien kein eindeutiger Trend zum Kondom erkennen - und das hat offenbar mehrere Gründe.
Plötzliche Errektionsstörungen
„Wenn ich ein Kondom benutzen würde, hätte ich immer Angst, dass es platzt oder in mir bleibt“, sagt Veronika. Wie alle sehr jungen Frauen denken Veronika und Natalie beim Stichwort „Sex“ nicht in erster Linie an sexuell übertragbare Krankheiten, sondern an eine ungewollte Schwangerschaft. Um diese zu verhüten, setzen die beiden Mädchen nicht auf Kondome, sondern auf die Pille. „Die Pille ist einfach sicherer“, meint Veronika. Und auch Natalie will sich in den nächsten Monaten um ein Rezept kümmern. „Nach 1989 sind einfach sehr viele Frauen vom Kondom auf die Pille umgestiegen“, sagt dazu Petr Weiss. „Das hatte zwar die positive Folge, dass die Zahl der Abtreibungen in Tschechien enorm gesunken ist. Aber unter Aspekten der AIDS-Prävention ist das natürlich bedauerlich.“
Nur 14 Prozent der Frauen, die einen ständigen Partner haben, benutzen beim Geschlechtsverkehr Kondome. Auch Natalie ist sich nicht ganz sicher, ob die Kondome, die sie derzeit mit ihrem Freund Evžen verwendet, auch mit der Pille noch zum Einsatz kommen werden. Denn trotz der Bedrohung durch HIV: Einen Mann davon zu überzeugen, ein Kondom zu benutzen, verlangt von der Frau häufig noch immer viel Beharrlichkeit und Überzeugungskraft.
„Die meisten Jungs warten, ob das Mädchen das überhaupt anspricht“, sagt Veronika. „Und wenn sie ein Kondom will, versucht er meistens, ihr das auszureden.“ Eine schwere Latex-Allergie, das uralte Versprechen „aufzupassen“, oder Errektionsstörungen, die auftreten, sobald das Kondom in Sichtweite kommt – nicht jede Frau hat Lust und Nerven, jedes Mal lange Diskussionen zu führen. „Doch die Frauen müssen sich hier durchsetzen“, sagt Petr Weiss. „Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau sich bei einem Mann ansteckt, ist 200 Mal so hoch wie umgekehrt.“ Das Kondom, so meint Weiss, habe ein echtes Imageproblem: „Wenn Männer glauben, das Kondom beeinträchtige das Gefühl beim Sex, so kann ich nur sagen: Das ist gut, denn dann dauert es länger und die Frau hat mehr Spass dabei. Zum anderen bilden viele Leute sich ein, ein Kondom zeuge vom Misstrauen in die eigene Gesundheit oder die Gesundheit des Partners. Die Schule und die Familie erfüllen bei der Sexualaufklärung ihre Rolle einfach nicht“, meint Weiss. Und deshalb ist er froh, dass die tschechische Regierung nach vielen Jahren sträflicher Vernachlässigung in diesem Jahr endlich wieder mehr Geld in AIDS-Prävention stecken will.
„Wir haben uns ein paar Jahre ziemlich auf unseren Lorbeeren ausgeruht“, räumt Dzamila Stehlikova, Ministerin für Menschenrechte und nationale Minderheiten Ende Januar bei der Pressekonferenz zur neuesten AIDS-Statistik ein. Weil die Fallzahlen in den neunziger Jahren wesentlich weniger stark anstiegen sind als vorhergesagt, hat die tschechische Regierung die finanzielle UNterstützung für die Prävention in den letzten 12 Jahren erheblich reduziert: „1996 standen für das gesamte Thema AIDS 67 Millionen Kronen zur Verfügung, 2007 waren es noch 19,5 Millionen“, sagt Jaroslav Jedlička, der Nationale Koordinator für den Kampf gegen AIDS „Etwa die Hälfte davon war dabei für Medikamente bestimmt, die die Versicherung den Kranken nicht bezahlt, weitere sechs Millionen brauchte das Nationale Zentrallabor für die kostenlosen AIDS-Tests. Für die Aufklärung und Prävention blieben uns deshalb zuletzt nur noch rund vier Millionen übrig, also 40 Heller pro Einwohner. Dabei hat sich die CR beim UNO-AIDS-Gipfel 2001 verpflichtet, die Ausgaben für den Kampf gegen HIV zu erhöhen.“
Offenbar aufgeschreckt durch die neuste Statistik hat die Regierung nun tatsächlich beschlossen, sämtliche Medikamente zukünftig aus aus der Kasse der VZP, der Allgemeinen Krankenversicherung, zu erstatten. Damit erhöht sich das Budget für die eigentliche Prävention um rund 10 Millionen Kronen. Ab Mai soll davon eine breit anglegte Kampagne finanziert werden, die sich, so Stehliková, vor allem auf junge Leute und auf Schulen konzentrieren solle. Von den Homosexuellen, die 79 Prozent aller HIV-Positiven in Tschechien ausmachen, war dabei nicht die Rede. Dabei gibt es in puncto AIDS-Prävention auch in der tschechischen Schwulenszene noch einiges nachzuholen.
Im schalen Licht des Pornos
„Ich kann mich nicht erinnern, in den Klubs jemals irgendwo Infomaterial über AIDS gesehen zu haben.“ Zeth zieht an seiner Start. An dem gemusterten Hemd und der sorgfältig gestylten Frisur ist nicht schwer zu erkennen, dass der 24-Jährige „anders“ ist als die meisten seiner tschechischen Geschlechtsgenossen. „Dabei wäre das schon wichtig. Es gibt nämlich zwei Sorten von Schwulen“, sagt er. „Die meisten passen auf sich auf. Wenn sie jemanden kennenlernen, nehmen sie ihn mit zu sich nach Hause und fragen ihn auf dem Heimweg, mit wem und wie er vorher Sex hatte und ob er schonmal beim AIDS-Test war.“ Ist das nicht der Fall, werden Kondome benutzt und irgendwann gemeinsam ein Test gemacht. “Aber dann gibt es eben auch welche, denen ist das alles egal – und die gehen dann auch in die darkrooms“, sagt Zeth. „Um einfach nur abzuspritzen, wie sie sagen.“
Ein vollkommen dunkler Raum, in dem nur das schale Licht eines Pornofilms von der Leinwand fällt, darin lauter Männer, die, ohne einander zu kennen und völlig anonym Anal- und Oralsex miteinander haben – aus Sicht eines AIDS-Praventisten ist der darkroom so ungefähr das, was einem Biobauern das Atomkraftwerk auf dem Nachbarfeld ist. „In Westeuropa ist es immerhin üblich, dass man in Schwulensaunas mit dem Handtuch am Eingang gleich auch ein Kondom mitgeliefert bekommt“, sagt Miroslav Hlavatý, der Leiter des AIDS-Zentrums „Dům Svetla“ in Prag. „Hier bei uns haben diese Klubs meistens nicht mal einen Kondomautomaten auf dem Klo.“
Eine besondere Kamapgne, wie sie in Deutschland zum Beispiel die AIDS-Hilfe extra für schwule und bisexuelle Männer durchführt, wünschen sich allerdings weder Zeth noch Miroslav Hlavatý. „Das wird einfach viel zu teuer“, meint Hlavatý. „Ich finde es nicht gut, wenn die Gesellschaft in veschiedene Gruppen geteilt wird. Wir wollen doch eine gemeinsame Gesellschaft sein, in der jeder auf sich aufpasst, egal, welche sexuelle Orientierung er hat“, sagt Zeth. „Aber wenn die Schwulenklubs verpflichtet wären, Kondomautomaten aufzuhängen – das fände ich eigentlich schon gut.“
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