Eine slowakische Erfolgsgeschichte
Vor zwanzig Jahren trat Václav Havel von seinem Amt als tschechoslowakischer Präsident zurück; die Auflösung der Föderation hatte begonnen. Viele Slowaken fürchteten sich vor einem neuen Staat und durchlebten in den neunziger Jahren einen dramatischen Kampf um die Demokratie. Von diesem Sieg profitiert die Slowakei bis heute.
In einem alten Stadthaus mitten im Zentrum von Bratislava fährt leise ein Mann auf einem Treppenlift nach oben. Im zweiten Stock bleibt er stehen, seine Frau hilft ihm aufzustehen. Dem Mann mit der kräftigen Statur fällt dies sichtlich schwer, nur langsam tritt er in die zu einem Büro umgebaute Wohnung ein. Der einstige slowakische Präsident Michal Kováč (82) begrüßt seinen Besuch bereits wieder im Sitzen. Die Parkinson-Krankheit bereitet ihm stechende Rückenschmerzen und hemmt seine Aussprache. Sein Verstand aber ist wach geblieben, genauso wie die Erinnerungen an die Zeit, in der er einer der Hauptakteure bei der Auflösung der Föderativen Republik war. „Ich war es, der damals Druck ausgeübt hat. Nicht Vladimír Mečiar“, sagt er mit verächtlicher Gebärde, die dem ehemaligen slowakischen Regierungschef gilt. Und wie hat er die Zeit nach der Entstehung des souveränen Staates erlebt, zu dessen ersten Präsidenten er gewählt worden war? „Es war ein Leidensweg“, sagt Kováč.
Es ist ziemlich genau zwanzig Jahre her, dass die politische Maschinerie mit Volldampf auf das Ende der Tschechoslowakei zuraste, das nur ein halbes Jahr später eintrat. Wie in jedem Schulbuch nachzulesen ist, wurde der Teilungsprozess durch die Parlamentswahlen im Juni 1992 eingeleitet. Auf den Gipfel der Macht landeten zwei Männer, die sich unversöhnlich gegenüberstanden: Václav Klaus und Vladmír Mečiar. Kurz darauf dankte Präsident Václav Havel ab, da er der Meinung war, „die Emanzipationsbemühungen der slowakischen Gesellschaft sind offensichtlich stärker als wir Föderalisten gedacht haben“. Zu Silvester 1992 um Punkt Mitternacht wurde das Staatsfernsehen der ČSFR abgeschaltet, an der zuvor imaginären Grenze zwischen der Tschechischen und Slowakischen Republik gab es plötzlich Polizisten, die Pässe forderten. Aus einer gemeinsamen Währung wurden zwei.
Heute kann man sagen, das Trauma der Trennung ist längst überwunden. Einen glücklichen Schlusspunkt setzte die EU, in der sich beide Staaten als gleichberechtigte Partner begegnen. Nach zwanzig Jahren lässt sich aber auch sagen, dass beide Nationen die Trennung völlig unterschiedlich durchlebt haben. Ihre damaligen Erfahrungen beeinflussen ihr Verhalten bis zum heutigen Tag.
Über der Wiege
Mit einer gewissen Übertreibung kann man sagen, dass die Tschechen die Trennung von den Slowaken fast nicht bemerkt haben: Beiläufig haben sie zwar registriert, dass ihr Staat etwas kleiner wurde, doch sonst hat sich nichts verändert. Noch nicht einmal auf der Prager Burg. Denn dort amtierte schon wieder Präsident Václav Havel.
Für die Slowaken jedoch bedeutete das Ende der Tschechoslowakei das Erwachen in einem neuen Staat und eine vollkommen neue Erfahrung – wenn man den aus Gnaden Hitlers entstandenen autoritären Ständestaat zwischen 1939 und 1945 einmal ausklammert. Nach jahrhundertelanger Fremdherrschaft, sei es von Budapest oder Prag aus, stand die slowakische Nation plötzlich vor der Aufgabe, wie man vor sich selbst und vor der Welt bestehen soll. Die Welt stellte sich in den neunziger Jahren relativ freundlich dar, das größere Problem war die eigene Gesellschaft. Im September 1992 zeigte sich in einer Umfrage, dass 60 Prozent der Bevölkerung Angst vor der Zukunft hatte und die Gegner einer Auflösung der ČSFR zahlreicher waren als die Befürworter der Selbständigkeit. Noch im März 1993 behauptete jeder zweite Slowake, falls es im Herbst 1992 zu einem Referendum gekommen wäre, er hätte für den gemeinsamen Staat gestimmt.
„Damals zu Silvester habe ich mich mit ein paar Freunden sehr betrunken“, erzählt Martin Bútora, der gerade in einem sonnendurchfluteten Hof eines bekannten Restaurants in Bratislava sitzt. Bútora gehörte einst zu den sogenannten „Föderalisten“ und zu den Beratern von Václav Havel, als dieser noch Staatsoberhaupt beider Völker war. Um Mitternacht hätten sie, sagt Bútora, die tschechoslowakische Hymne gesungen und darüber diskutiert, was sie wohl nun erwarten würde. Sie hatten sich ernsthafte Sorgen gemacht, dass die ehemalige Regierungsriege um Mečiar die Demokratie unterdrücken könnte – und aus Prag keine Hilfe kommen würde. „Bei einer der letzten gemeinsamen Besprechungen, die auf der Prager Burg stattfanden und bei der das Szenarium zu Havels Wahl zum ersten tschechischen Staatspräsidenten entworfen wurde, drängte ich darauf, einen wichtigen Punkt aufzunehmen“, sagt Bútora und holt ein gelbes Blatt Papier hervor – das Protokoll aus dieser Besprechung. In Punkt 7 steht geschrieben: „Nach der Trennung des Staates wird Václav Havel weiterhin dafür Sorge tragen und verantwortlich sein, dass die Menschenrechte auch in der Slowakei eingehalten werden.“ Der Lauf der Geschichte hat gezeigt, dass die Befürchtungen Bútoras durchaus berechtigt waren; doch genauso gab man sich Illusionen hin, was Havels Möglichkeiten betraf.
Am Silvesterabend des Jahres 1992 hatten sich auch andere Menschen betrunken – jedoch aus Freude. Den Platz des Slowakischen Nationalaufstandes (náměstí SNP), auf dem während der Revolution im Jahr 1989 Tausende Bürger und einige Zeit später demonstrierende Nationalisten zusammenkamen, bevölkerten nun begeisterte Slowaken aus allen Ecken des Landes. Zwischen zerbrochenen Bier- und Sektflaschen versammelte sich eine kleine Gruppe Menschen an einer Wiege, in der eine Puppe im Wickeltuch lag. Diese Nornen erinnerten eher an Fußballfans als an patriotische Druden, die sich des neuen Staates besinnen. Dennoch: Ihre Freude war aufrichtig.
Krieg der Worte
Der Kampf um die Vormacht im neuen Staat hatte heiß begonnen. Zwei Kräfte standen sich damals gegenüber, die sich schon über längere Zeit herausgebildet hatten – und zwar nach einem ganz anderen Muster als in Tschechien. Kurz, und deswegen auch sehr einfach, kann man das so beschreiben: Auf der einen Seite standen diejenigen, für die der November 1989 ein Sieg der Freiheit und Demokratie bedeutete, deren Garantie unter anderem der gemeinsame Staat mit den Tschechen war. Auf der anderen Seite waren diejenigen anzutreffen, die den November 1989 eher als Niederlage empfanden, da sie ihre gesellschaftliche Stellung, die sie im sozialistischen Regime innehatten, verloren. Schnell sind diese Leute von der Welle des Nationalismus erfasst worden, der jahrzehntelang in der slowakischen Gesellschaft geschlummert hatte. Ihr Anführer wurde Mečiar.
Gleich am ersten Tag des Jahres 1993 wechselte die Regierung Mečiar die Leitung der oppositionellen Tageszeitung „Smena“ aus, die über die Jugendorganisation der Kontrolle des Staates unterlag; zudem hielten wieder Zensur und Propaganda Einzug in Fernsehen und Rundfunk, das damals noch monopolistisch war.
Ein Blick in die damalige Regierungszeitung „Republika“, deren vergilbte Bände man praktisch nur noch in den Archiven einer Universitätsbibliothek findet, führt die Leser in eine merkwürdige Zeit der Paranoia zurück. Der ehemalige Kulturminister beschwert sich, dass „die Künstler keine Beziehung zu ihrer Heimat haben“, schreibt der Kommentator über die „Gegner der Souveränität“, die „jammern wegen der Föderation wie die kleinen Kinder“. Ein anderer Minister lehnt es ab, sich „in dieser Atmosphäre der Weltbürgerschaft beleidigen“ zu lassen. Laut einem anderen Autor „erleben wir eine Art des geistigen Terrorismus im Namen der Demokratie“.
Diese Zitate und das Verhalten der Regierungsmedien offenbaren, dass die Regierung von Premier Mečiar das Gefühl hatte, von „Feinden des jungen Staates“ umzingelt gewesen zu sein, oder – wie man damals mit einer bestimmten Diffamierung sagte – von Föderalisten. Die Gegner der neuen Machthaber mussten mit ansehen, dass sich diejenigen an die Spitze der Gesellschaft setzten, die den ehemaligen totalitären Regimen gedient hatten, die die Slowaken durchlebten: den Faschismus und den Kommunismus. Ein kalter Bürgerkrieg hatte begonnen, bei dem die Worte die wichtigste Rolle spielten. Heute kann man darüber lachen, aber damals war das anders: Nur ein paar hundert Kilometer südlich von Bratislava sind auf dem Balkan Zehntausende Menschen in einem echten Krieg ermordet worden, der genau mit diesen fanatischen Worten des Nationalismus, die man nun in der Slowakei benutzte, begonnen hatte.
„Man konnte den Faschismus wieder spüren“, sagt Zuzana Szatmáry, Direktorin der slowakischen Nichtregierungsorganisation „Nadace Charty 77“. „Meine jüdische Mutter sagte, dass sie diese Atmosphäre an das Jahr 1939 erinnert.“ Zuzana Szatmáry kann sich daran erinnern, wie ihr eines Tages bewusst geworden ist, dass sie nicht mehr in der Mitte des Bürgersteigs, sondern an den Fassaden der Häuser entlangläuft.
„Volksfeinde“ standen in den Regierungsmedien oft am Pranger. Die bekanntesten unter ihnen sind ab und zu auf der Straße angespuckt worden, ganz eifrige Patrioten versetzten ihnen heftige Hiebe. In der Regierung saßen mehrheitlich ehemalige Kommunisten, das sogenannte Lustrationsgesetz wurde de facto außer Kraft gesetzt, Mitarbeiter der damaligen Staatssicherheit nahmen wichtige Funktionen ein und die Anhänger des faschistischen Staates zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs wurden zu einem festen Bestandteil des öffentlichen Lebens.
Zwei Geschichten
Für die Stimmung und den Wandel einer Zeit haben die Dichter stets ein feines Gespür bewiesen. Es verwundert daher auch nicht, dass es ein bedeutender slowakischer Lyriker war, der die Atmosphäre im Sommer 1992 mit dem Vers „der SS-Mann umarmte sich mit dem Stasi-Mitarbeiter“ beschrieb. Wer dabei wer war, wusste die slowakische Gesellschaft genau. Ľubomír Feldek musste das eigentlich nicht weiter ausführen. „Der SS-Mann, das bin ich, und der Stasi-Spitzel ist der Herr Mečiar“, sagte der damalige Kulturminister Dušan Slobodník, der Feldek wegen Verleumdung verklagt hatte, in seiner berühmten Rede vor dem Gericht. Obwohl das Gedicht von niemanden ausdrücklich erwähnt wurde (und selbst wenn, es beinhaltete nur wahre Tatsachen – Slobodník war als junger Mann Mitglied einer faschistischen Gruppierung, die für den Partisanenkampf vorgesehen war, und Mečiar wurde unter dem Decknamen „Doktor“ auf der Agentenliste der Staatssicherheit geführt), die slowakische Justiz forderte den Schriftsteller nach dreijährigem Tauziehen zu einer Entschuldigung auf (das Urteil war zehn Jahre später vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgelöst worden). „Diese drei Jahren haben mich müde gemacht“, sagt Feldek und trinkt einen Saft.
Der ehemals starke und als Boheme der Kneipenszene von Bratislava bekannte Mann sieht auch heute müde aus, auch wenn die einstigen Kämpfe fast vergessen sind. „Ich hatte es einfach satt“, sagt er. Nächtliche Drohanrufe, getötete Hühner an der Haustür, Attacken auf der Straße und auch eine bestimmte Ausweglosigkeit in der sich ständig verschlechternden Situation, hatten Feldek dazu bewogen, nach Prag zu ziehen und die tschechische Staatsbürgerschaft anzunehmen. „Es war eine große Erleichterung, dass die Tschechen mich so gut aufgenommen haben“, erinnert er sich. Heute wohnt er wieder in Bratislava, an die einstige Atmosphäre erinnert nichts mehr. „Die Aufteilung in gute und schlechte Slowaken gibt es schon längst nicht mehr“, meint Feldek. „Sie sind verschwunden, weil sie kein Talent hatten“, sagt er und meint damit die Leute, die damals die Staatsmedien und auch die Politik beherrscht haben.
Wirkliche Opfer der Besessenheit und Paranoia gab es auf beiden Seiten, jedoch eigentlich überraschend wenige. Ihre traurigen Geschichten geben einen Eindruck von der damaligen Atmosphäre. Einer der eifrigsten Verfechter der unabhängigen Slowakei war der ehemalige Vorsitzende der Föderalversammlung Roman Zelenay, ein Mann, der über eine unerschöpfliche Energie und Begeisterung für den neuen Staat verfügte. Es ist eine Geschichte überliefert, dass er noch vor der Auflösung der Tschechoslowakei mit Kreide einen Strich auf die Autobahn bei Lanžhot malte und anmerkte: „Wenn diese Grenze Wirklichkeit wird, werde ich der glücklichste Mensch der Welt sein.“
Im Herbst 1993 war der Kampf um den Charakter des Staates im vollen Gange und in der ausländischen Presse mehrten sich kritische Artikel über den slowakischen Nationalismus und die autoritäre Regierung. Zelenay war damals der Stellvertreter des Kulturministers Slobodník und beide brachten viel Energie dafür auf, um ausländische Journalisten und Politiker davon zu überzeugen, dass einheimische Feinde für „das schlechte Bild der Slowakei“ verantwortlich sind und die Republik im Westen verunglimpfen.
Als Zelenay am späten Abend des 1. November 1993 in sprichwörtlich letzter Minute erfuhr, dass eine Gruppe deutscher Bundestagsabgeordneter für den nächsten Tag einen slowakischen „Föderalisten“ nach Dresden eingeladen hatte, damit dieser einen Vortrag über die politische Entwicklung in der Slowakei hält, zögerte er keine Sekunde. Er setzte sich in seinen Dienstwagen, einen Ford Scorpio, und befahl dem Fahrer, schnellstmöglich nach Deutschland zu fahren, um am nächsten Morgen vor Ort zu sein und die Regierung der neuentstandenen Slowakei vor den deutschen Abgeordneten zu verteidigen. Der Chauffeur kam dem Auftrag so gut es ging nach, übersah jedoch – bei Lanžhot, dort wo Zelenay seinen Kreidestrich gezogen hatte – bei einer Geschwindigkeit von 150 Stundenkilometern einen schlecht abgestellten LKW aus Ungarn, der auf die Zollabfertigung wartete. Der Aufprall schleuderte den nicht angeschnallten Roman Zelenay frontal durch die Windschutzscheibe. Er verunglückte an der Grenze, nach der er sich so gesehnt hatte.
Auf dem Staatsbegräbnis sprach Premier Mečiar über Zelenay wie über einen mutigen Patrioten, der starb, um im Ausland „seine Heimat gegen ihre Feinde zu verteidigen“. Diese traurige Geschichte wäre nicht vollständig ohne den Zusatz, dass der „Feind“, der Ende 1993 vor den deutschen Abgeordneten sprach, der Autor dieses Textes ist, der gleichzeitig zugibt, dass ihm die Rede des Premiers nicht völlig kalt ließ.
Der Anfang vom Ende Mečiars
Mit einem Abstand von zwanzig Jahren offenbart sich die Zeit nach der Teilung der Tschechoslowakei, in der sich die slowakische Gesellschaft in Streitereien verlor, als klassischer Geburtsschmerz eines neuen Staates, dessen Erfolg vorbestimmt war. In den ersten Jahren jedoch war das bei weitem nicht abzusehen: Aufgrund des zunehmend autoritären Regierungsstils Mečiars wurde die Slowakei aus der Gruppe der Staaten ausgeschlossen, die in naher Zukunft in die Nato und die Europäische Union aufgenommen werden sollten. Weltpolitische Analytiker sprachen von einem Beispiel für eine „nicht liberale Demokratie“ und einem Zeugnis für die „Tyrannei der Mehrheit“. Die Slowakei hatte den Weg eingeschlagen, auf den sich damals bereits Serbien unter Milošević oder Weißrussland unter Lukaschenko befanden. Im Jahr 1995 ging es sogar so weit, dass der Geheimdienst den Sohn des Präsidenten Kováč entführte und bewusstlos im österreichischen Grenzstädtchen Hainburg zurückließ. Der Präsident hatte sich zuvor mit Premier Mečiar zerworfen und nun den Status eines ständigen Verfassungsorgans, was gegen die Absichten des „SS-Stasi-Duos“ gerichtet war und deren Pläne durchkreuzte. Wer so etwas machte, lebte gefährlich. Einer der Zeugen der Entführung, der Geheimdienstmitarbeiter Robert Remiáš, wollte die Karten auf den Tisch legen. Doch dazu kam es nicht: Er starb ein paar Wochen später nach einer Bombenexplosion in seinem Auto.
Trotz dieses Klimas ist es der Slowakei gelungen, auf den demokratischen Weg zurückzukehren. Wie kam es zu diesem Wunder?
Die damaligen Anhänger Mečiars hatten recht behalten, als sie befürchteten, dass ihre Widersacher im Laufe der Zeit die Oberhand gewinnen werden. Schon recht bald hatte sich gezeigt, dass die „Föderalisten“, die den Geist der Demokratisierung nach der Samtenen Revolution verkörperten, den längeren Atem haben. Es waren Leute, die sich zwar nicht nach der Teilung der Tschechoslowakei gesehnt hatten, aber wenn schon gegen ihren Willen ein selbständiger Staat entstand, dann wollten sie auch mitbestimmen, wie dieser fortan aussehen soll. Das Ergebnis ihrer Bestrebungen ist aus historischer Sicht beeindruckend.
Ein Beispiel kann die Tageszeitung „Smena“ liefern. Mečiar hatte zwar versucht, sie zu beherrschen, die Mehrheit der Redaktion aber legte ihre Arbeit nieder und gründete innerhalb von nur zwei Wochen die neue Tageszeitung „SME“. Die geschwächte „Smena“ konnte sich trotz der Unterstützung der Regierung nur noch zwei Jahre halten und funktionierte in dieser Zeit auch nur zum Preis herber Verluste. Die Tageszeitung „SME“ hingegen entwickelte sich zur größten Zeitung des Landes. Wie die Pilze schossen Nichtregierungsorganisationen aus dem Boden, das private und unabhängige „Rádio Twist“ ging auf Sendung, und als im Jahr 1996 das Fernsehmonopol der Regierung Mečiar durch den erfolgreichen Privatsender Markíza (der schnell einen Oppositionston anschlug) gefallen war, stand fest: Die Nationalisten werden immer mehr an Boden verlieren.
Entscheidend aber war, dass Mečiar trotz der Angriffe des Geheimdienstes auf Oppositionspolitiker und Journalisten niemals den Mut aufbrachte, weder die ihm zur Verfügung stehenden Kräfte massiv zu nutzen noch Wahlen zu manipulieren, da diese durch den Druck der NGOs nun überwacht wurden. Auch deswegen verliefen die Wahlen im Jahr 1998 friedlich. Mečiar wurde damals von einem Konglomerat von Oppositionsparteien geschlagen und das Ende seiner Ära eingeläutet (Mečiars Partei HZDS existiert heute de facto nicht mehr, da sie sich aus der Öffentlichkeit komplett zurückgezogen hat). Die Slowakei hatte innerhalb von nur wenigen Jahren die verlorene Zeit in der demokratischen Entwicklung nachgeholt und kann heute mit Tschechien Schritt halten – auch in der Wirtschaft. Paradoxerweise sind es heutzutage die „Föderalisten“, die mit der Entwicklung zufriedener sind als diejenigen, die sich damals einen selbständigen Staat gewünscht hatten. Schließlich waren sie seit dem Jahr 1998 auch überwiegend an der Macht.
Die Unzufriedenen
Wie sehen also diejenigen – mit zeitlichem Abstand betrachtet – die damalige Zeit, die vom neuen Staat den Löwenanteil abbekommen hatten? Ex-Präsident Michal Kováč gibt zu, dass sich sein Traum von der Selbständigkeit in einen Albtraum verwandelt hat. Die Schuld daran trägt Mečiar. „Ich wusste, wie gefährlich dieser Mann ist. Ich habe ihn schon vorher gut gekannt“, sagt er. Alt und gebrechlich äußert er nun unzufrieden, dass die von Mečiar begangenen Verbrechen ungesühnt blieben, der Staat die ihm gestohlenen Milliardenbeträge aus der Zeit der wilden Privatisierung nie zurückerhielt, als Mečiars Weggefährten praktisch umsonst an Fabriken und strategische Betriebe kamen. „Deswegen betrügen die Leute heutzutage“, sagt er. „So hatte ich mir das alles nicht vorgestellt.“ Heute sieht er ein, der damalige Verzicht auf ein Referendum entsprach nur dem Willen einiger Politiker, nicht der Bevölkerungsmehrheit und brachte den Parteien eine außergewöhnliche Machtfülle ein. Sie nutzten diese gegen eine geschwächte Gesellschaft aus und etablierten eine Parteienherrschaft, aus der die heutige Korruption entspringt. Kurz muss Kováč überlegen, dann ergänzt er, die Teilung der ČSFR war ein richtiger Schritt, „die Entwicklung geht in eine positive Richtung“.
Ein bisschen anders über die Vergangenheit und die Gegenwart denkt ein Mann, der einst ebenfalls von der Selbständigkeit geträumt hat. Marián Tkáč war als Vizegouverneur der Slowakischen Nationalbank mitverantwortlich für die Einführung der eigenständigen Währung. „Das waren die glücklichsten Jahre meines Lebens“. Tkáč war damals oft in Fernsehdiskussionen zu sehen und berühmt wegen seiner strubbeligen Haare, die er mittlerweile komplett verloren hat. „Das war eine Perücke“, lacht er heute in seinem schlicht eingerichteten Büro, an den Wänden hängen Bilder von Persönlichkeiten der Nationalen Wiedergeburt und Szenen aus dem Leben der Slowaken. „Diese Bilder habe ich selbst gemalt“, erklärt Tkáč etwas bescheiden. „Mein Vorgänger hatte nämlich kahle Wände hinterlassen.“ Marián Tkáč war im Jahr 1994 bei Mečiar in Ungnade gefallen und verbrachte daraufhin 18 Jahre im Archiv der Slowakischen Nationalbank. „Ich war eigentlich ein Dissident“, erzählt er stolz. Heute ist der fast vergessene Tkáč Vorsitzender der Matica slovenská, einem stark nationalen Kulturverband mit einer 150 Jahre langen Tradition und breiter Struktur. Den Namen seines Amtsvorgängers nimmt er nicht in den Mund, wobei sich Jozef Markuš im Kampf um den neuen Staat sehr verdient gemacht hat und 20 Jahre lang Chef der Matica war. Dennoch wird mit seiner Person ein Skandal in Verbindung gebracht, in dem sich wie in einem Wassertropfen der Aufstieg und Fall des slowakischen Nationalismus spiegelt: Während Markužs Herrschaft und auf seinen Aufruf hin sollten die Slowaken Geld für einen Nationalschatz spenden. Das Spendenkonto wuchs nicht besonders schnell an, über die Jahre hinweg wurden rund 20 Millionen Kronen gesammelt. Wie dem auch sei: Im Jahr 2010 kam heraus, dass auch diesem nicht großen „Schatz“ ein trauriges Schicksal ereilte: Das Geld war in den Rachen eines Investment-Fonds verschwunden, der wahrscheinlich ein Schneeballsystem betrieb und pleite ging. Weitere knapp 500 Millionen Kronen zahlten slowakischen Patrioten in den Fonds ein, da sie sich davon hohe Zinsen versprachen; schließlich vertrauten sie dem Matica-Verband, der ständig Werbung für den Fonds machte und ihn eine „Investition des Verstands und des Herzens“ nannte. Auch ihr Geld ist versickert.
„Das Geld hat alle beherrscht – nicht nur die Föderalisten, auch die Patrioten“, sagt Tkáč enttäuscht. Dieser Mann, dessen Vorgänger (laut eigener DNA, die er untersuchen ließ) angeblich seit 20.000 Jahren auf slowakischem Gebiet lebten, ist der Auffassung, dass die Slowakei bis zum heutigen Tage geteilt ist und dass den Staat „nicht gerade die gegründet haben, die am fähigsten waren“. Die Ursache allen Übels ist das Geld: Es hat die Slowaken verdorben und ist auch der Grund, warum die Menschen, die Anfang der neunziger Jahre nach einem eigenen Staat strebten, heute praktisch völlig von der Bildfläche verschwunden sind. „Sie fühlen sich besiegt“, sagt Tkáč. „Aber wen wundert das eigentlich?“
Die Idee des Staates
Also wie ist das jetzt? Die Slowakische Republik ist nicht von den Fähigsten gegründet worden, aber heute trotzdem relativ erfolgreich. Laut neuester Angaben von Eurostat weist die Slowakei zwar ein niedrigeres BIP (73 Prozent des EU-Durchschnittswerts) als Tschechien (80 Prozent) auf, aber beim Umrechnen auf den „persönlichen Verbrauch“, mit anderen Worten auf das Lebensniveau, stellt sich die Situation der Bewohner beider Staaten vollkommen gleich dar (70 Prozent des EU-Durchschnitts). Das ist eine bemerkenswerte Leistung, mit der vor zwanzig Jahren nur die Wenigsten gerechnet hätten. Vielmals wurde und sicher wird auch künftig noch Masaryks Ausspruch zitiert, dass Staaten die Ideen behalten werden, auf deren Grundlage sie einst entstanden sind. Aber, wie Michal Kováč bestätigt, gab es nicht einmal in der engsten Führungsriege der HZDS bis zum Herbst 1992 eine interne Diskussion über die Entstehung des selbständigen Staates, nicht einmal eine Vorstellung darüber, wie dieser aussehen sollte. Der slowakische Staat fußte damals auf den ersten Blick auf keiner Idee, es existierte nur ein unklar formuliertes Verlangen nach Souveränität, dem damaligen Wortschatz zufolge nach „internationaler Subjektivität“.
Trotzdem scheint es so, als ob auch eine nebulöse Idee als Bedingung für die Geburt eines neuen Staates dienen kann. Wichtiger ist dann, ob sich diese dann in den nächsten Jahren mit Inhalt füllt. Im Fall der Slowakei ist genau das passiert, auch wenn der Weg zur Selbstfindung und politischen Reife voller Dornen war. Die Slowaken mussten sich mit der Methode „Versuch und Irrtum“ („trial and error“) entscheiden, was sie wollen, und vor allem, was sie nicht wollen. Als Mečiar später, als sowohl EU als auch Nato die Slowakei von der Liste der aussichtsreichen Beitrittskandidaten gestrichen hatte, den berühmten Satz sprach: „Wenn uns der Westen nicht will, wenden wir uns dem Osten zu“, stand das Schicksal des gesamten Landes auf dem Spiel. Damals sind auch diejenigen mobilisiert worden, die sich nach den Worten Dušan Slobodníks „gegen die Entstehung der slowakischen Staatlichkeit verbündeten und dem jungen Staat Knüppel zwischen die Beine geworfen haben“ – und in den Wahlen 1998 Vladimír Mečiar besiegten. In einem bestimmten Sinne war dies ein vielleicht noch wichtigerer Moment als im November 1989 – weil sich die Slowaken dieses Mal ihre Demokratie selbst erkämpfen mussten.
Welche Vorstellung haben die Slowaken also von ihrem eigentlichen Staat? Sie fällt erstaunlich pragmatisch aus, frei von diesem nationalen Romantismus, der in den neunziger Jahren in einen nationalistischen Fanatismus ausuferte. Es entspricht der Vorstellung einer erwachsenen Nation, die sich nichts einredet und weiß, dass ihr Hauptinstinkt und Ziel das Überleben ist. Das bedeutet aber im heutigen Europa, sich darum zu bemühen, modern und europäisch zu sein. Das Wort Souveränität ist praktisch aus dem Vokabular verschwunden; die Slowaken gehen gelassen mit der Vorstellung um, einen Teil ihrer Souveränität aufzugeben. „Das ist unser Lebensraum“, sagt Premier Robert Fico über die Europäische Union. „Wir sind ein kleines Land, völlig abhängig davon, was in großen Staaten wie Frankreich oder Deutschland geschieht. Wir müssen denen zeigen, dass wir es verdienen in einem starken Staatenbund zu sein, falls es zu einer Aufteilung Europas kommt.“
Seine Worte drücken den Selbstfindungsprozess aus, den die Slowaken in den letzten zwanzig Jahren durchschritten haben. Die neunziger Jahre kamen einer schweren Prüfung ihrer Fähigkeiten gleich, die sie zumindest bis jetzt bestanden haben. Die Angst vor der Zukunft, mit der die Slowaken damals in ihrem neu entstandenen Staat lebten, ist nicht völlig verschwunden. Mit den Worten des Dichters Feldek gesprochen: „Die Slowaken wissen, dass der größte Feind der Slowaken die Slowaken sind, und deswegen haben sie sich für Europa entschieden, das sie vor sich selbst schützt.“
Der Artikel erschien zunächst unter dem Titel „Velká slovenská výhra“ in der tschechischen Wochenzeitschrift „Respekt“ (Ausgabe 28 vom 9. Juli 2012). Übersetzung: Hana Gaitzschová, Marcus Hundt (Prager Zeitung)
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