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Respekt auf Deutsch13. 8. 2009

Manchmal habe ich Lust zu emigrieren

Astronaut
Vladimír Klokočka Autor: Archiv

Sie haben vor nicht langer Zeit gesagt, dass Sie wegen dem Verfall der juristischen und politischen Kultur in der Tschechischen Republik erneut erwägen zu emigrieren. Haben Sie wirklich so große Bedenken, was unsere Demokratie anbelangt?
Das mit der Emigration ist Übertreibung, aber auf der anderen Seite keine so große Übertreibung.

Autor: Archiv

Warum ist der Zustand der tschechischen Demokratie nicht so gut?

Weil sich die konkurrierenden Parteien mit Feuer und Schwefel bewerfen, das würde ich noch verstehen. Auch in westeuropäischen Ländern verhalten sie sich nicht mit Nachsicht gegenüber. Was mich aber stört, ist das Maß des gegenseitigen Hasses.

Zwanzig Jahre nach dem Fall des Kommunismus sollte auch davon ausgegangen werden, dass sich bei uns der demokratische Rechtsstaat weiter entwickeln wird. Statt dessen beobachten wir Bemühungen, den Inhalt der Verfassung zu ändern, ohne den Text an sich zu verändern, mit Bemühungen, die Verfassung zu umgehen, sie zu desinterpretieren, die praktizierende Verfassung von der geschriebenen Verfassung abzuweichen. Dies ist eine schlechte Gewohnheit, welche vielleicht damit zusammenhängt, dass uns eine formale Veränderung der Verfassung als zu kompliziert vorkommt.

Was meinen Sie konkret?
Die Mächtigen tendieren oft dazu, alles zu vereinfachen. Es kommt ihnen zu kompliziert vor, das Abgeordnetenhaus aufzulösen, also verkürzen sie die Legislaturperiode mit einem besonderen Verfassungsgesetz. Oder sie bemühen sich die Verfassung zu umgehen, indem so ein Wahlsystem erreicht werden soll, welches das Verfassungsprinzip der Proportionalität umgehen würde. Wir haben dies bereits 2001 erlebt, als die Politiker vorgeschlagen haben, dass 39 Wahlkreise eingerichtet werden sollten und dass die Mandate in jedem Wahlkreis einzeln aufgeteilt werden sollten. Das Verfassungsgericht hat sich damals gegen diesen Vorschlag gestellt. Es geht eigentlich darum, unter dem Deckmantel eines Proporzsystems ein Mehrheitswahlsystem durchzusetzen. Und das nur deshalb, weil es keine Verfassungsmehrheit gibt, welche im Abgeordnetenhaus ein anderes Wahlsystem als das Proporzsystem durchsetzen könnte.
Allgemein gesagt handelt es sich um Versuche, die Verfassung im Widerspruch zu ihrem Sinn und ihren Prinzipien zu interpretieren. Das können wir leider am häufigsten beim derzeitigen Herrn Präsidenten beobachten. Angesichts dessen, dass wir keinen König haben, nehmen wohl einige in seinem Umfeld an, dass der Präsident eine größere Rolle spielen sollte. Oder der Präsident hat sich im präsidentiellen System wiedergefunden.

Zu Verfassungsverschiebungen kam es aber bereits zur Zeit von Präsident Havel, als 1998 die Legislaturperiode wegen der Ernennung einer Beamtenregierung verkürzt wurde. Warum haben Sie nicht bereits damals protestiert?
Damals war ich Verfassungsrichter und dieser darf sich dazu als Privatperson nicht äußern, weil dies als Einmischung wahrgenommen werden könnte und wenn dieser Fall zufällig vor dem Verfassungsgericht gelandet wäre, wäre der Richter als befangen wahrgenommen worden. Diese Situation verpflichtet zur großen und informellen Zurückhaltung. 1998 kam es aber zum ersten – und bis jetzt einzigen – Fall, der als Ausnahmesituation verstanden wurde und niemand konnte ahnen, dass wir uns an die Wiederholung gewöhnen.

Geht Václav Klaus in seinem Verständnis seiner Präsidentenrolle aber nicht unterbewusst davon heraus, dass er auf der Burg residiert, die ein königliches Symbol ist? Darüber hinaus knüpfen unsere Verfassungen von 1920 und 1992 an die monarchistische Verfassung von Österreich-Ungarn an.
Wir haben aber eher an die Verfassung angeknüpft, welche 1875 die französische Nationalversammlung verabschiedet hatte. Damals waren Republikaner und Monarchisten, die im Parlament sogar über die Mehrheit verfügten, zum Kompromiss gekommen und haben vereinbart, dass Frankreich einen Präsidenten haben wird. Man hat ihn mit den Kompetenzen eines Monarchen in konstitutioneller Ordnung ausgestattet, gleichzeitig hat man sich aber bemüht, ihn von der Exekutivmacht fernzuhalten. Er hatte seine auf den ersten Blick prunkhaften Kompetenzen, war aber immer von der Zustimmung der Regierung abhängig.
Diese Verfassung ist in der Organisation eines Staates zum Vorbild für unsere erste Verfassung geworden. Und das könnte der Grund sein, warum das Staatsoberhaupt zum Eindruck gelangen könnte, dass er auf der Spitze einer Pyramide der Macht wäre. Diese Vorstellung ist auch möglich, wenn man sich die Denke von unserem Präsidenten anschaut.
Übrigens, nach 1918 wurde darüber nachgedacht, ob wir nicht einen König haben sollten, um den nach Vatikan zweiältesten Königskomplex in Europa irgendwie auszunutzen…

Wo genau irrt sich Václav Klaus?
Ich nehme an, dass er nicht das dritte Kapitel der Verfassung versteht, wo geschrieben steht, dass das oberste Organ der Exekutive die Regierung ist. Seine Interpretation ist falsch. „Staatsoberhaupt“ ist nicht die erste oder höchste Entscheidungsinstanz, sondern verkörpert nur die Einheit des Staates. Die Tatsache, dass er Staatsoberhaupt ist, bedeutet aber nicht sein Allmacht in Entscheidungsfragen. Er handelt nur im Namen des Staates.

Gut, aber was bedeutet das?
Wir könnten beispielsweise sagen, dass der Präsident der Republik etwas wie der juristische Vertreter des Staates ist, der mit seiner Ratifizierung bekräftigt, dass sein Klient, nämlich der Staat, das Angebot auf die Abschließung eines internationalen Vertrages mit der Entscheidung des Parlaments angenommen hat. Alle Aufgabenbereiche des Präsidenten in den Außenbeziehungen sind im Artikel 63 der Verfassung aufgeführt und sie sind an der Kontrasignation gebunden, der Mitunterschrift und das gilt auch bei der Ernennung von Botschaftern, über welche in den letzten Tagen gesprochen wird, was aber in Wirklichkeit ein Akt der Regierung ist und nicht des Präsidenten. Die Gesandten werden in die Welt von der Regierung entsandt, nicht vom Präsidenten. Die gleiche Interpretation hat vor kurzem auch das polnische Verfassungsgericht im Streitfall des Präsidenten Kaczyński mit dem Ministerpräsidenten Tusk gefällt.

Der Berater von Präsident Klaus, Ladislav Jakl, sieht aber gerade diesen Bereich anders. Er zitiert aus der Verfassung, wonach der Präsident den Staat nach außen vertritt, und kommt zum Schluss, dass er damit die Außenpolitik ausführt.
Na ja, Herr Jakl interpretiert auch die Zustimmung vom Parlament auch nur als vorläufige Zustimmung, welche erst vom Präsidenten bekräftigt wird. In Wirklichkeit bestätigt er nur, dass es im Parlament zu einer Entscheidung gekommen ist, welche von ihrer Vorgehensweise her der Verfassung entspricht. Er hat keine Verfügungsfreiheit, ob unterschreiben oder nicht. Die Verfassung spricht in dieser Angelegenheit nicht vom Recht des Präsidenten zu handeln, sondern von der Pflicht, d.h. ohne unnötige Verzögerung einen rechtmäßig verabschiedeten Akt zu ratifizieren. Aus Jakls Details und Verschiebungen in der Interpretation hat man den Anschein, dass sich der Präsident sein eigenes, privates Präsidentenregime bildet.

Wozu brauchen wir einen Präsidenten, wenn er nur Regierungsvorschläge bestätigen soll? Würde nicht der Status eines Staatsnotars ausreichen?
Der Präsident hat aber doch sehr wichtige Kompetenzen und die Verfassung spricht klar davon. Im Artikel 62 sind die Kompetenzen in zwölf Punkten erwähnt, wo er nicht die Zustimmung der Regierung braucht: unter anderem ernennt er die Vorsitzenden und die Vizevorsitzenden vom Verfassungsgericht und vom Obersten Gericht und mit Zustimmung des Senats die Richter am Verfassungsgericht. Bei den anderen Kompetenzen, die im Artikel 63 erwähnt sind, bestätigt er nur mit seiner Unterschrift die Regierungsentscheidungen, bzw. die des Premierministers. Im Falle von Ratifizierungen und bei der Unterschrift von Gesetzen funktioniert er ähnlich wie ein Notar.

Interpretiert der Präsident die Verfassung vielleicht auch deshalb anders, weil sie diesen Artikel in die Verfassung ungenau geschrieben haben? Warum haben Sie seine Kompetenzen auf dem Felde der Außenpolitik nicht genauer eingegrenzt?
Wir haben in die Verfassung mehrere Punkte nicht einbringen können – teils wegen unterschiedlichen Interpretationen von Experten, aber vor allem wegen inkompetenten Eingriffen und Änderungen von Seiten der Politik. Zum Beispiel bei der Auslegung der Immunität von Abgeordneten, die in Tschechien unglaublich breit wahrgenommen wird. Ich habe früher allen Abgeordneten einen Brief geschrieben, um ihnen zu erklären, dass sie sich irren. Leider haben sie bereits damals begriffen, dass die Straffreiheit für sie keine schlechte Sache sei. Damals bekam ich die ersten Zweifel über die Richtung unserer Republik…
Um aber zur Frage zurückzukehren: sie können nie vorab alle möglichen Situationen vorhersagen, die auftreten könnten und für diese eine unendliche Anzahl an gültigen Formeln schreiben. Jede Verfassung basiert auf irgendwelchen Prinzipien und das Fundament unserer Verfassung sind die Hauptfestlegungen der Verfassung und die Menschenrechtskonvention. Die Verfassung von 1992 steht – ähnlich wie die deutsche Verfassung – auf verbindlichen Werten und regulativen Ideen. Das ganze Recht muss bei seiner Anwendung von diesen Werten ausgehen. Deshalb ist auch die Auslegung der Gegenzeichnung, die gemeinsame Unterschrift des Präsidenten und der Regierung, eindeutig.

Wie denn?
Der Präsident kann an den Regierungssitzungen teilnehmen, er kann von der Regierungsmitgliedern Berichte anfordern, kann sich mit dem Premierminister im Laufe des Prozesses von Entscheidungen auseinandersetzen, aber jede Entscheidung, die er laut Artikel 63 der Verfassung als Entscheidungen des Präsidenten unterschreibt, muss von den Regierungsentscheidungen ausgehen.
Der Präsident ist eine politisch unverantwortliche Person und das ist der Hauptgrund, warum für all seine politischen Entscheidungen nur und nur die Regierung verantwortlich ist. Er ist an den Regierungsentscheidungen gebunden, weil die Regierung für diese die volle Verantwortung übernimmt. Er kann also nicht etwas nach Belieben sagen, denn er muss daran denke, dass für ihn die Regierung die Verantwortung übernimmt. Deshalb muss die Gegenzeichnung ohne Diskussion als eine Regierungsentscheidung verstanden werden, welche dann der Präsident dann nur als seine Entscheidung präsentiert. Das betrifft alle Punkte aus Artikel 63.

Hat der Präsident eine vorgegebene Frist, bis wann er ein Gesetz unterschreiben muss?
Der Präsident hat das Recht, innerhalb von 15 Tagen dem Abgeordnetenhaus ein Gesetz zurückzugeben. Diese Fristen ermöglicht die Verfassung für Fälle, wenn aus besonderen Gründen eine bestimmte Frist nötig ist. Herr Präsident Klaus hat den Eindruck, dass dort, wo es keine Frist gibt, er unbeschränkt viel Zeit hat. Es ist in Wirklichkeit das Gegenteil der Fall: in solchen Fällen ist er verpflichtet, ohne unnötige Verzögerung zu unterschreiben.

Also sollte er unverzüglich den Vertrag von Lissabon unterschreiben.
Das hängt von der Interpretation des Verfassungsgerichtes ab. Falls er den letzten Befund als definitive Äußerung darüber, dass der Vertrag nicht im Widerspruch zur Verfassung steht, sieht, dann sollte er unverzüglich unterschreiben. Meiner Meinung nach kann man den Befund des Verfassungsgerichtes in diesem Falle als Zustimmung verstehen. Deshalb würde ich noch weiter gehen: Falls der Vertrag dem Präsidenten zur Ratifizierung vorgelegt wurde, ist er laut Artikel 63 der Verfassung dazu verpflichtet, unverzüglich zu unterschreiben.

Manche ODS-Senatoren wollen eine neue Untersuchung des Vertrages erreichen.
Es ist abwegig mit der Ratifizierung deshalb zu warten, weil die Senatoren irgendwann mal vielleicht doch erneut ersuchen werden, dass der Vertrag von Lissabon auf seine Verfassungskonformität untersucht wird. Das bedeutet, dass man auf nie endende Spiele mit dem Präsidenten eingeht, wobei klar wäre, dass es nicht mehr weit zur verfassungswidrigen Schikane hat.
Ein weiteres Problem ist die Ernennung von Richtern. Hier greift Václav Klaus in der Tat zu einer furchtbaren Desinterpretation. Laut Verfassung ist es nämlich so, dass der Präsident nicht über die Ernennung von Richtern an üblichen Gerichten entscheidet, er ernennt sie nur. Er kann der Regierung seine Vorbehalte mitteilen, muss es aber davor tun. Sobald die Regierung Namen vorgeschlagen hat, muss der Präsident sie ernennen, die Verfassung lässt nichts anderes zu. Ähnlich ist es mit der Ernennung von Ministern und als der Präsident einmal einen Minister abgelehnt hat, weil dieser nicht Englisch spricht, dann hat er verfassungswidrig gehandelt. Der Präsident ernennt die Minister auf Vorschlag der Regierung und er muss das machen, weil er nicht verantwortlich für die Regierung ist, sondern der Ministerpräsident. Hier gibt es keine Ausrede. Jede Entscheidung in unserem Leben hängt davon ab, wer dafür die Verantwortung trägt.

Einem normalen Menschen kann unsere Debatte als „weltfremd“ vorkommen. Er weiß nicht, wie ihn das ganze konkret betrifft.
Die Menschenleben, welche sie als normal bezeichnen, werden von anderen Problemen geformt. Sie nehmen dann in der Tat das politische Leben und dessen Konflikte nur entfernt war, als ob es von einer anderen Welt stammen würde, welche sie, wie sie annehmen, nicht beeinflussen können. Diese Debatte betrifft sie insofern, falls sie verstehen, dass sich der Präsident verfassungswidrig verhält.

Václav Klaus hat aber vor kurzem erklärt, dass er Ihre Interpretation der Verfassung als eine extreme Variante betrachtet.
Ich würde eher sagen, dass sich unsere Interpretationen extrem unterscheiden und wir unterscheiden uns auch darin, wer sich bei der Interpretation der Verfassung grundsätzlich irrt. Seine Abrückung von der Verfassung ist so markant, dass ich mir die Frage stelle, was ein Präsident machen sollte, der wiederholt von seinem Versprechen, die Verfassung zu achten, abgerückt ist. Und der offen gezeigt hat, dass er mit seiner Interpretation seiner Funktion abweichend von der Verfassung vorgeht.

Was sollte er Ihrer Meinung nach machen?
Entweder sollte er abtreten oder er sollte das Parlament darüber entscheiden lassen, dass der Präsident aus schwerwiegenden Gründen nicht sein Amt ausüben kann, da er nicht nur anders von seiner Aufgabe und von der verfassungsrechtlichen Position überzeugt ist, sondern auch so handelt, womit er unseren Staat zu Hause und im Ausland destabilisiert.

Falls bei uns die juristische und die politische Kultur so bedroht sind, würde man erwarten, dass sich die juristische Öffentlichkeit meldet. Wieso gibt es hier keine Autorität der Universitäten? Wir haben bereits genug juristische Fakultäten und ihre Stimme sollte bei einer falschen Interpretation der Verfassung im öffentlichen Raum zu hören sein.
Zu Beginn seiner Existenz ist das Verfassungsgericht auf den Widerstand von Menschen gestoßen, die in ihrer juristischen Ausbildung und politischen Orientierung vom alten Regime stark beeinflusst wurden. Es handelte sich in erster Linie um ehemalige politische Kader, die vor allem in der Repression und im Strafrecht tätig waren: noch einige Jahre nach 1989 haben sie die Mehrheit der Richter inklusive derer am Obersten Gericht gebildet, sie waren vor der Revolution Mitglieder der Kommunistischen Partei. Die Tatsache, dass sie danach das Prinzip der juristischen Kontinuität hervorgehoben haben und dem Positivismus und Legalismus zugeneigt waren, war unter anderem eine Art und Weise die eigene Vergangenheit zu umgehen und sich in das neue System zu integrieren. Zu dieser Gruppe gehörte auch ein beträchtlicher Teil der Lehrer an juristischen Fakultäten.
Das Problem liegt aber auch darin, dass sich der zweite Teil der juristischen Öffentlichkeit des langjährigen Verfalls des juristischen Bewusstseins und der Manipulation mit dem gültigen Recht bewusst war. Sie haben sich im Bestreben, sich von der Vergangenheit zu distanzieren, sich zu formal an juristischen Gesetzesinterpretationen orientiert.

Wie sollen wir das verstehen?
Ihr Bestreben nach Rechtmäßigkeit hat manchmal die Besinnung gefehlt, dass Gesetze eine Interpretation brauchen, dass eine tiefere Anwendung vonnöten ist und Respekt zu verbindlichen Grundwerten der Verfassung, so dass immer der eigene inhaltliche Wert des konkreten Rechts angewandt wird. Daraus folgt, dass wir auf Ruhe aus den juristischen Fakultäten noch warten werden müssen.

Wie soll sich also die Öffentlichkeit gegen die Desinterpretation der Verfassung wehren und auch dagegen, dass sich die Politiker unberechtigt Kompetenzen aneignen?
Die erste Voraussetzung einer Verteidigung sind Informationen. Die Gesellschaft muss sich klar darüber werden, dass es zu solchen Sachen kommt. Dazu brauchen wir die Meinungs- und die Pressefreiheit. Aber: Die Medien weichen komplizierten Erklärungen meistens aus. Wenn ich die Interpretation des materiellen Rechtsstaates erklären will, dann sagen mir die Journalisten, dass es zu kompliziert sei. Der Mehrheit der Politiker und der Unternehmer – wobei beide Sphären ungesund miteinander verbunden sind – passt dieser Zustand. Es fehlt hier immer noch der Homo politicus und deshalb ist es sehr schwierig und die Korrektur wird sehr lange dauern. Erste Anzeichen einer Besserung sehe ich bei manchen jungen Studenten, Assistenten und Richtern, welche sich gegen falsche Interpretationen gewehrt haben. Ein junger Richter, Petr Langer, hat sogar einen Rechtsstreit gegen den Präsidenten gewonnen.

Wie viele Richter haben sich aber öffentlich gemeldet, als Václav Klaus abgelehnt hat, Petr Langer als Richter zu ernennen? Die Richter und die juristische Gemeinde meldeten sich nicht mal, auch als vor kurzem ein Gesetz verabschiedet wurde, das den Einfluss von Politikern auf die Justiz noch erhöhe.
Sie haben Recht, für diesen Zustand tragen die Richter die Verantwortung. Wir sehen aber in einer Reihe von Fällen, dass sie für ihr Engagement bestraft werden. Nehmen Sie zum Beispiel das Urteil von Vojtěch Cepl jr. im Fall der „Justizmaffia“. Ich weiß sicher, dass ich in diesem Fall genauso entschieden hätte wie er, da ich genauso verstehe, dass Frau Benešová wegen der Situation in der Justiz zu ihrer Aussage gezwungen war. Einer Situation, wo es zu Methoden kommt, die einer Maffia nicht unähnlich sind.
Die erschütternden Affären sind direkt unerträglich – beginnend mit dem ehemaligen Minister Němec, der die Bestrafung des Prinzen von Katar zugesichert hat und der nun anstelle von ihm die Strafe absitzen sollte. Weiter könnte man die Abberufung der Oberstaatsanwältin Benešová nennen, das lange Hin und Her im Falle Čunek und weitere Eingriffe der Staatsanwältin Vesecká, des stellvertretenden Vorsitzenden am Obersten Gericht Kučera, Regress gegenüber Staatsanwälten und Richtern, denen der Fall weggenommen wurde. Und stellen Sie sich vor, all die brisanten Fälle sind noch im Schrank verschlossen.

Wie soll man aber die Justiz entpolitisieren?
Vor allem muss systematisch die richterliche Unabhängigkeit garantiert werden, die Justiz von jedweder Unterstellung oder Abhängigkeit von der Exekutive getrennt werden. Diese Frage ist auch in Westeuropa aktuell.

Was bedeutet „systematisch die richterliche Unabhängigkeit garantieren“?
Vor allem muss die Unabhängigkeit der Jurisdiktion behütet werden, die richterliche Selbstverwaltung gestärkt werden, die Konzeption der gerichtlichen Verwaltung als Teil der Exekutive aufgerieben werden, die Arbeit der Staatsanwälte muss vor zweckbestimmten Eingriffen der Exekutive beschützt werden, die Unabhängigkeit der Staatsanwälte gestärkt und letztlich so eine Auswahl der Verfassungsrichter eingeführt werden, so dass dies nicht in der Hand einer Person oder einer Partei liegen würde.

Wie geht man die „Systemgarantien“ in Deutschland oder in Frankreich an, zum Beispiel in puncto Verfassungsgericht?
In Frankreich wird der Verfassungsrat gleich stark vom Präsidenten, vom Vorsitzenden des Abgeordnetenhauses und vom Vorsitzenden des Senats ernannt, jeweils nach einer Bewerbung. In Deutschland wird das Verfassungsgericht halb vom Bundestag mittels zwölf ausgesuchter Wahlmänner, halb durch Direktwahl vom Bundesrat gewählt. In beiden Ländern ist es nicht möglich, dass eine Person wiedergewählt werden würde.

Jetzt bietet sich die Frage an, warum Richter und die juristische Gesellschaft nicht Alarm schlagen oder nicht nach größerer Unabhängigkeit rufen.
Die Tatsache, dass die Resonanz von Richtern schwach war, zeugt von der Bemühung, sich der „Obrigkeit“ anzupassen – so wie es früher Brauch war. Vor allem wenn diejenigen, die sich gemeldet hatten, dann bestraft wurden. In manchen Fällen, vor allem bei der Serie von repressiven Maßnahmen gegen Richter und Staatsanwälte, haben sich die Richterunion und die Union der Staatsanwälte gemeldet. Der Schutz vor politischen Eingriffen in die Justiz und gegen Einschüchterungen sollte aber weit markanter und wirksamer sein.
Im Hintergrund mancher Ihrer Fragen fühle ich ein tieferes und allgemeines Problem, dass sich Richter, die Öffentlichkeit und auch allgemein die „normalen Menschen“ in der Politik und im Staat wenig engagieren. Ich habe mehrere Situationen in unserem Land erlebt und wahrgenommen und ich weiß gut, dass sich in kritischen Situationen die Nation außergewöhnlich mobilisieren lässt. In ruhigeren Zeiten gilt aber, was Masaryk über die tschechische Natur geschrieben hat, die sich eher anpasst und die entgegenkommend ist. Sie bemüht sich der Obrigkeit anzupassen und ihr im eigenen Interessen entgegenzukommen. Die Tschechen werden außer von außergewöhnlichen, kritischen Situationen lieber still mit engagierten Personen sympathisieren, bzw. mit Märtyrern, als dass sie ihre eigenen Interessen riskieren würden.

Woran liegt das?
Vielleicht hängt es auch damit zusammen, dass die Tschechen im Verlauf der Jahrhunderte besser als die Polen oder die Ungarn ihre historische Situation einschätzen konnten und sich nicht auf Konflikte eingelassen haben, in denen sie keine Schimmer auf Erfolg verspürt haben. Vierzig Jahre des totalitären Regimes hat an vielen Menschen Spuren hinterlassen: sie haben nichts altes vergessen und haben nichts neues hinzugelernt. Sie sind fähig, in jedem Regime mitzuschwimmen und jedem Risiko aus dem Weg zu gehen. Die Zeit hat sich aber verändert. Die Selbstständigkeit der eigenen Person und des eigenen Mutes sind sehr nötig.

Vladimír Klokočka
geboren 1929 
Studierte Jura an der Karlsuniversität Prag. 1961–62 postgraduales Studium am Institut des Études Européens in Turin. 1966 habilitierte er als Dozent für Verfassungsrecht. Während des Prager Frühlings wurde er als Abgeordneter in den Tschechischen Nationalrat gewählt, dort beauftragt mit der Ausarbeitung eines neuen Wahlgesetzes und wurde Dekan an der Juristischen Fakultät in Brno, später aus politischen Gründen ausgeschlossen. 1971–77 arbeitete er in der Tschechischen Staatsversicherung in Prag. Als Unterzeichner der Charta 77 wurde er entlassen und zur Emigration gezwungen. Er arbeitete in Deutschland als Dozent am Institut für Politikwissenschaften der LMU München. 1990–93 beteiligte er sich am Demokratisierungsprozess in der Tschechoslowakei, wurde Professor für Verfassungsrecht und der Staatswissenschaften, 1993–2003 Richter am Verfassungsgericht der Tschechischen Republik. Er ist Autor der Monografie „Verfassungssysteme der europäischen Staaten“ (2006).


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